Nach Hause kommen, um zu sterben
Nach Hause kommen, um zu sterben
Robert rief uns spät abends an: „Meine Frau liegt im Sterben. Ich habe sie heute aus dem Krankenhaus nach Hause geholt, und jemand hat mir empfohlen, mich an dich zu wenden. “
Roberts Frau Kati wurde seit einiger Zeit wegen Magenkrebs behandelt, und in den letzten Monaten waren die Metastasen in ihrer Leber, ihre Lunge und ihr Gehirn gewandert. Robert erzählte mir davon: „Seit 4 Tagen etwa kann sie nicht mehr so gut sprechen. Sie zu verstehen, ist sehr mühsam. Aber sie verliert die Kontrolle auf eine sehr würdevolle Weise, und ich bin stolz auf sie.“ Ich deutete an, dass sie vielleicht nicht die Kontrolle verliert, sondern sie freiwillig aufgibt – dass die Selbstbeherrschung, die „Würde “, vielleicht ein Zeichen dafür sei, dass ihre Aufgaben auf Erden vollendet sein. Er erzählte mir, es sei ihr Wille gewesen, das Krankenbett zu verlassen und die körperliche Anstrengung auf sich zu nehmen, um nach Hause kommen zu können. Ich fragte ihn: „Wie fühlst du dich jetzt? Ich meine, wenn Kati tatsächlich sterben würde, während wir beide uns hier am Telefon unterhalten, wie könntest du dann bei ihr sein? “ Robert antwortete: „Es war ihre Wahl, zu Hause zu sterben, und ich werde sie auf dem ganzen Weg begleiten. Aber ich könnte ein wenig Beistand gebrauchen, denn ich will, dass es ihr gut dabei geht. Ich möchte, dass alles richtig ist. “
Veetman: „Damit alles richtig sein kann, musst du die Stelle finden, wo nicht alles richtig ist. Wenn du daran denkst, dass sie stirbt, kannst du dann die Stelle in deiner Brust fühlen, wo es wehtut? Kannst du den Ort des Verlorenseins in deinem Inneren finden, an dem du dich ihrem Sterben verweigerst?“
Robert: „Da ist eine Seite an mir, die mich beschwört, sie am Leben zu erhalten, und zu dieser Seite habe ich ein sehr inniges Verhältnis. Und dann ist da eine andere Seite, die zu mir sagt, sie wolle bei ihr sein, wenn sie stirbt, und auch das ist so ok. Sie hat mich immer geführt. Sie ist eine überaus starke Frau. Ihr größtes Problem im Moment ist das Atmen. Die Tumore machen es ihr schwer, Luft zu bekommen. Sie keucht viel, und während der letzten Tage im Krankenhaus kämpfte sie bei jedem Atemzug. Selbst die Erweiterung der Bronchien half nicht lange. Während der vergangenen 24 Stunden hatte sie Herzrhythmusstörungen, und ich denke, dass sie bald sterben wird, und vor allem möchte ich auf jede denkbare Art und Weise für sie da sein – so gut ich kann.“
V: „Die Angst zu ersticken ist so ursprünglich wie alle anderen Ängste, die wir haben. Das vergebliche Atemholen, nicht mehr tief durchatmen zu können, erschreckt uns oft. Es gibt einen alten Widerstand in uns, sich dieser Art der Angst, der Erstickungsangst, zu stellen, und er legt sich wie eine Schlinge um uns, so dass die Angst immer stärker wird - Alarmglocken schrillen, das Lebenslicht flackert, und man verkrampft sich, fühlt sich noch viel unbehaglicher. Du kannst Ihr dabei helfen, weich zu werden. Man kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, weich zu sein, wenn man sich das Loslassen und das Aufgehen von Angst und Spannung in etwas Größerem erleichtern will. Mein Lehrer erinnerte uns oft an diese bedeutsamen Worte für die Begleitung Sterbender: Entspann dich- Lass los-Vertraue.
Bei einer Frau, die ein Kind zur Welt bringen wird, ist es ganz ähnlich. Kati ist dabei, sich selbst zur Welt zu bringen. Manchmal wirkt es von außen, etwa für Menschen, die bei einer Geburt dabei waren, so, als sei der Schmerz die alles beherrschende Empfindung; fragt man aber die Betroffenen selbst nach ihren Empfindungen, dann ist da wohl Unbehagen, doch es ist viel mehr als das. Auch ein ungläubiges Staunen über den Prozess, ein starker Wille und eine gewaltige Kraft, auszuhalten - und auf den allerschmerzhaftesten Ruck folgende unbändigste Freude und das Gefühl der Erlösung, ein Gefühl der Vollkommenheit. Nimm ihr ihre Gefühle nicht ab. Wenn du wissen willst, was sie wirklich fühlt, dann frage Sie selbst. “
Robert sagte, das es wohl genauso sei, und auch sie habe gesagt, Ihre Schmerzen seien gar nicht so schlimm, es seien seine Projektionen, die ihr mehr Schmerz unterstellten, als sie wirklich fühle. Und dass Sie erkannt habe, das ist auch ihm gut täte, „weich zu sein“.
R: „Seit ich sie nach Hause geholt habe, schläft sie wieder gut. Atmen ist immer noch sehr anstrengend. Aber es scheint, als sei sie dabei viel entspannter.“
Er fügte hinzu, dass sie mit viel weniger Medikamenten auskäme, seit sie zuhause sei. Sie hatte ihn gebeten, den Prozess nicht mehr zu steuern, sondern ihn sich nach seinen eigenen Gesetzen entwickeln zu lassen und keine Lungenpunktion mehr vorzunehmen.
R: „Das ist der Teil, der mir schwerfällt, besonders weil ich gelernter Atemtherapeut bin. Sie vor mir zu sehen, wie Sie versucht, trotz der Flüssigkeit, von der sich immer mehr ansammelt, Luft zu bekommen. Dabei weiß ich, dass ich sie nicht absaugen werde, dass ich mich zu keinen heldenhaften Maßnahmen werde hinreißen lassen, weil das unsere Abmachung ist.“
Ich erwähnte, dass der Augenblick, den er und Kati gerade teilten, der innigste ihres ganzen Lebens sein könnte. Darauf erwiderte er: „Wir waren uns heute unbeschreiblich nahe, und ich hätte es nicht anders gewollt, auch wenn ich jetzt sehr müde bin. Ich habe nicht viel geschlafen, aber der heutige Tag war wie ein Wendepunkt für mich. Während der letzten Tage bin ich ohnmächtig vor Trauer gewesen, aber nun ist mir etwas sehr Schönes widerfahren, und ich fühle mich geistig einfach hellwach und überglücklich, weil wir nach Hause gekommen sind. Ich hatte gedacht, sie würde es nicht mehr schaffen. Sie schleppte sich unter solchen Anstrengungen in das Taxi, dass ich fürchtete, es wäre zu viel für sie. Aber ich weiß, dass sich Kati vollkommen bewusst ist, was hier passiert, und jetzt bin ich so erleichtert, dass ich tun kann, was sie sich gewünscht hat“.
Robert erzählte mir, das es manchmal beinahe so wirke, als ob sie in einen leichten komaartigen Schlaf gefallen sei. Und so schlug ich ihm vor, trotzdem mit ihr zu sprechen, ob sie nun antwortete oder nicht, die Verbindung zu ihr nicht abzubrechen, ohne sie allerdings zu bedrängen, sondern so, dass es ihr gefiele. Ich erklärte ihm, wie hilfreich das für ihn und für sie sein könne. Wenn sie nicht reagieren würde, sollte er nicht allzu vernünftig mit ihr sein, aber auch nicht meinen, sie sei „nicht mehr bei sich“, wo sie doch wirklich „gerade erst zu sich kommt “.
R: „Heute Nacht haben wir uns ausgiebig gedrückt und umarmt, und es war wirklich wunderschön. Und ich werde nicht aufhören, Wege zu finden, auch noch mit ihr zu sprechen. “
Ich schlug Robert vor, ihr aus ihren Lieblingsbüchern vorzulesen, von seiner Liebe zu ihr zu reden und davon, dass er bereit sei, sie ihren eigenen Tod sterben zu lassen.
R: “Ich lese ohnehin gern vor, das ist also hervorragend. Sie hat immer sehr im Einklang mit der Natur gelebt. Sie ist religiös, aber anders als die meisten Menschen. Eigentlich ist sie eher spirituell als religiös veranlagt. Sie liebt schöne Verse. Sie hat auch schon oft selbst geschrieben, so dass das vielleicht
ein Weg wäre, an sie heranzukommen, unter der Voraussetzung, dass ich etwas Schönes finde.“
Als ich ihm Thoreau vorschlug, antwortete er, das sei "geradezu ideal für sie“. der Enthusiasmus in seiner Antwort ließ mich aufhorchen: „Aber die Sache hat einen Haken. Es findet sich dort eine Verbundenheit und Hingabe an die äußerliche Schönheit dieser Welt. Und ich würde dieses Gefühl nicht noch verstärken, wo sie diese Welt doch gerade verlässt. Je leichter das ist, was du ihr vorliest, desto besser. Nur damit kein allzu starkes Verhaftetsein in ihr sich an diesen Raum gewöhnt, jetzt, wo sie in einem ziemlich ausgeglichenen Zustand zu sein scheint.“
R: „Ja, in gewissen Dingen könnte es nicht besser laufen.“
V: “Ich schlage vor, dass das, was du liest, ein Lebewohl an diese wunderbare Welt sein sollte. Sie macht den Eindruck, als habe sie keine Probleme damit, das hinter sich zu lassen, was sie hinter sich lassen muss. Vertraue dem Prozess mit der für dich größtmöglichen intuitiven Verbundenheit mit ihr. Lass es vom Herzen kommen.
Und sollte sie wieder in diesen komaartigen Raum geraten, dann bleibe einfach bei ihr. Gib ihr den Mut, zu sehen, dass sie mehr als ihr Körper ist. Selbst die Tatsache, dass sie dich im Koma hören kann, bedeutet, dass sie mehr ist, als sie jemals zu denken wagte. Es zeigt, dass ihr wahres Selbst aus mehr als dieser sterbenden Hülle oder den Fantasien des Geistes gemacht ist.“
Robert sagte, er hätte gern mehr mit ihr geredet, wenn sie so dalag wie im Koma, aber er habe seiner Intuition misstraut.
V: „Es ist eine unglaubliche Gnade für sie, zu Hause zu sein. Besser hättest du ihr nicht helfen können.“
R: „Das macht mich so glücklich. Ich weine, und ich lache. Ich habe ein sehr gutes Gefühl dabei. Heute war der Tag einer ganz besonderen Geburt; ich habe etwas ähnliches noch nie erlebt.“
V: „Gut. Und jetzt tut sie das letzte, was ihr noch zu tun bleibt. Ich habe das Gefühl, für euch beide wird diese Erfahrung einzigartig sein. Und im Grunde hast du jetzt nichts anderes zu tun, als offen und weich zu sein, um einfach davon erfasst zu werden. Möchtest du noch etwas fragen?“
R: „Nun ja, es ist schon eigenartig, ihr keine Medikamente mehr zu geben. Etwas in mir, wahrscheinlich meine alte Therapeuten- Manier, hat das Bedürfnis, sie zu behandeln“.
V: “Lass dich auch darin von ihr führen. Und du kannst ihr vorschlagen, darauf zu achten, welche Schmerzmittel sie braucht, so dass sie es selbst beurteilen kann. Sie wird vielleicht merken, dass sie weniger benötigt, als sie jetzt nimmt, oder auch mehr- wie auch immer. Aber zu diesem Zeitpunkt ist es wichtig, dass sie auf nichts als ihre eigene Intuition angewiesen ist. Die Zeit ist gekommen, wo ihr einander so viel wie möglich vertrauen müsst“
R: “Ich muss noch etwas anderes sagen: Ich möchte, dass sie etwas isst.“
V. “Aber sie hat wahrscheinlich keinen Appetit.“
R: “Ja, und das geht schon eine ganze Weile so.“
V: „Ich habe Menschen gekannt, die wochenlang nichts aßen, nur Flüssigkeit zu sich nahmen. Dein Drang, ihr zu Essen zu geben, deutet auf vielerlei Dinge hin. Vielleicht musst du dich erst wirklich, auf einer noch tieferen Ebene, von ihr lösen. Warte nicht, bis sie gestorben ist, bis du sie gehen lässt. Tu es jetzt. Es ist schwer. In dem Maße, in dem du es schaffst, dich dem Prozess zu öffnen und ihn auf ihre Weise geschehen zu lassen, wird die Tiefe Eurer gemeinsamen Erfahrung abhängen. Was ihr widerfährt, wirst du so intensiv mit ihr teilen können wie in der Vergangenheit, womöglich intensiver. Du musst ihr erlauben das zu tun, was Sie für nötig hält.“
R: „Sie gab mir heute Abend einige Hinweise. Nur ein Murmeln: `Nicht nötig´“.
V: „Es ist alles okay für Sie. Jetzt muss sie nur noch diesen Prozess mit sich geschehen lassen, was Stunden oder Tage dauern kann; es gibt keinen Weg, das zu wissen. Biete ihr etwas zu trinken an, natürlich, aber wenn sie weder essen noch behandelt werden will, lass sie. Achte darauf, wenn du gegen ihren Willen deinem eigenen Bedürfnis gehorchst, für sie zu sorgen, weil das eine Möglichkeit ist, sie festzuhalten zu einer Zeit, wo es für euch beide so sehr darauf ankommt, loszulassen, um mit dem nächsten Augenblick zu verschmelzen.“
Robert fügte hinzu, er verstehe nur schwerlich, warum von Zeit zu Zeit eine Art Unruhe Kati ergreife, auch wenn ihr Geist mit sich im Reinen zu sein schien und sie bereit sei, „sich selbst neu zu erschaffen“. Ich erzählte ihm, das wir viele Menschen gekannt hatten, die für den Prozess des Sterbens überaus offen zu sein schienen, „dennoch wirkten sie manchmal irgendwie rastlos, denn der Körper hört nicht auf, sich besitzen zu wollen“, auf einer Ebene, die weit über das normale Verhaftetsein hinausgeht– vielleicht hat der Geist mit dieser Art des Festhaltens nicht einmal etwas zu tun. An einem gewissen Punkt scheint es so zu sein, dass das körperliche Unbehagen ein geringes Maß an Unruhe im Geist hervorbringt. Auf einer noch tiefer liegenden Ebene ist das vielleicht eine der Überlebensstrategien, gegen die Körper und Geist keinen großen Widerstand leisten. Diese scheinbare innere Unruhe wird manchmal als Verwirrung oder Zweifel an diesem Prozess missverstanden, obwohl sie eigentlich durch die Existenz in einem Körper bedingt ist. Ich habe sogar Menschen, die mit Ihrem Sterben relativ gelassen umgingen, sagen hören: “Es ist, als ob sich der Körper zum Abschied noch einmal umarmt“, und ich sagte ihm, das es nichts gäbe, worüber er nicht sprechen dürfe, wenn es sein Wunsch sei. Robert erklärte mir daraufhin, ein großes Problem bestünde darin, das Kati´s Mutter sie unbedingt besuchen möchte. Kati aber hatte ihm zu verstehen gegeben, das eigentlich nicht zu wollen. Ihre Beziehung war immer problematisch gewesen. Kati war es angenehmer, nur Robert bei ihrem Sterben dabei zu haben. Trotz allem beharrte ihre Mutter darauf, da zu sein, ob Kati nun wolle oder nicht.
R: „Ich denke, es ist am besten, wenn ich alle Leute, die sie nicht sehen will, von ihrem Zimmer fernhalte. Ich habe ihrer Mutter in einem nahegelegenen Hotel ein Zimmer reserviert, und so könnte es gehen. Ich habe ja deutlich zu verstehen gegeben, was Kati sich wünscht. Es ist mir schwergefallen, das zu tun, weil ich ihre Mutter mag, aber ich musste so hart sein, denn natürlich verhält sie sich wie eine Mutter: sie will reinkommen, um ihre Tochter ein letztes Mal zu sehen, und Kati will das nicht. Sie sagt, sie hätten in den vergangenen Monaten genug Zeit gehabt, sich auszusprechen, weitere Worte wären zu viel. Sie sagt, es würde alles zerstören, wenn ich es zuließe. Meine Lage ist also ziemlich vertrackt.“
V. „Wie wäre es, wenn sie am Telefon miteinander sprechen würden?“
R: „Kati wäre dazu nicht in der Lage.“
V: „Vielleicht wäre das nicht einmal schlimm, vielleicht ist das der Zeitpunkt für ihre Mutter, Unvollendetes abzuschließen, wohingegen es für Kati nichts mehr zu sagen gibt. Frage Kati, was sie von einem Anruf Ihrer Mutter hält, bei dem sie selbst nichts sagen müsste, und der Hörer ihr ans Ohr gelegt würde. Für ihre Mutter wäre es eine Gelegenheit, Ungesagtes zu sagen. Wenn es Kati leichten Herzens tun kann und sich wohl dabei fühlt, wäre es eine gute Möglichkeit. Sie müsste keine Reaktion zeigen, aber ihre Mutter könnte einige der Dinge sagen, die sie sagen möchte. Vielleicht bekäme Kati auf diese Weise eine Fülle liebender Wärme, ohne sich selbst in dieser wertvollsten aller Zeiten verleugnen zu müssen.“
R: „Das ist eine gute Idee; wir können es versuchen.“
V: „Aber vergiss nicht, dass Kati über diese Sache ganz allein entscheiden darf. Will sie mit ihrer Mutter sprechen- gut so. Wenn sie es nicht will- auch gut. Kein Urteilen, kein Verurteilen. Vielleicht ist ihrer Mutter schon geholfen, wenn man sie dazu ermutigt, sich in einem kleinen Brief an Kati alles von der Seele zu schreiben. Kati könnte den Brief öffnen, wann immer sie es wollte.“
R: „Hmm... sie hatten die vielen Monate des Ringens mit der Krankheit, um auszusprechen, was gesagt werden sollte. Vielleicht braucht ihre Mutter die Möglichkeit, ihr Lebewohl zu sagen.“
V: „Vertraue einfach Kati´s Gefühlen, und alles wird gut, und sie werden es gemeinsam tun, was auch immer es sein wird. Kati´s Art, es zu erleben, ist richtig, und sie weiß, was sie verstört, was sie jetzt ganz allein bewältigen muss. Dem Wesen nach ist dies nur einer der vielen Augenblicke in ihrem Leben, wo sie vertrauen haben und sich auf die Größe ihres klaren Geistes und Ihres offenen Herzens verlassen muss. Tatsächlich schließt sie jetzt nicht nur mit dir und ihrer Mutter ab; es ist auch eine Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Ich weiß nicht genau, wie Ihre psychische Verfassung ist, aber ich denke, das Beste, was Sie für sich tun kann, hat sie bereits getan: Sich selbst mit liebender Wärme zu umgeben, mit den Menschen, die sie am meisten liebt, insbesondere mit dir. Und du kannst sie sanft bestärken, die Art der lebenden Wärme und das Verzeihens zu üben, die ihr am meisten hilft, wenn sie Abschied von sich nehmen muss. Wenn es irgendeinen Ort in ihr gibt, an dem das Verhaftetsein an diese Welt noch beherrschend ist, sprich ihr gut zu, diesen Ort weit zu öffnen. Das hat nichts damit zu tun, eine neurotische „Suchaktion“ zu beginnen, denn jeder Zwang würde das Unbehagen nur verstärken. Je mehr sie sich jetzt Ihrem Herzen ergeben lernt, zu sich selbst „ich liebe dich“ zu sagen, ja sogar mit ihrem eigenen Namen „Kati, Ich liebe dich“, desto mehr wird sie eins mit dem Prozess werden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und alte Blockaden, die den Weg verstellen, niederreißen- das ist vorteilhafter für alles, was folgen wird. Und wenn ich schon davon spreche, sich selbst gegenüber Nachsicht walten zu lassen, was ist mit dir, Robert? Wie steht es um deinen Schlaf?“
R: „Ich bin müde, aber schlafen will ich nicht.“
V: „Wirst du heute Nacht an ihrem Bett sitzen?“
R: „Ja, ich glaube sogar, dass ich mich heute zu ihr legen werde. Während der ganzen Zeit im Krankenhaus, und das war eine ziemlich lange Zeit, habe ich mich schrecklich danach gesehnt, in einem Bett mit ihr zu schlafen, so dass es wirklich schön war, sie wieder zu Hause zu haben. Ihre Blutwerte verbesserten sich, und es tat wirklich gut, als sie aus der Quarantäne entlassen wurde, und wir uns wieder berühren und umarmen konnten.“
V: „Jetzt ist es an der Zeit, nie mehr unter Quarantäne zu sein, die Quarantäne, in einem Körper geboren zu sein, eingeschlossen. Zu Hause zu sein ist das schönste, was ihr zu diesem Zeitpunkt passieren konnte.“
R: „Ich wusste, es würde gut sein, und ich hatte das Glück, mich von ihr führen lassen zu können und gleichzeitig einen eigenen Lernprozess zu erleben, der mich herausfinden ließ, dass ich nun selbst in dieser Sache die Initiative ergreifen, es in die Hand nehmen und diese Leistung anerkennen musste, und ich genieße es.“
V. „Ja, du hast etwas für Sie getan, was niemand sonst auf dieser Welt für sie hätte tun können, und du hättest es nicht besser machen können. Schlaf gut, mein Freund“.
Am nächsten Tag rief Robert mich früh morgens an, um mir mitzuteilen, dass Kati um 04:15 Uhr in der Nacht gestorben sei, während er an ihrer Seite lag- mit einem sanften Atemzug ihres Körpers, auf den kein weiterer folgte. „Sie hatte einen wirklich schönen Tod. Sie entschied, das ihre Zeit loszulassen gekommen sei, und so entfernte sie sich Schritt für Schritt von dieser Welt. Sie starb vollkommen ruhig, friedlich und gelöst, und ich bin immer noch zutiefst berührt. Es war unbeschreiblich. An einem Punkt, ungefähr anderthalb Stunden vor ihrem Tod, schaute sie zu mir hoch und sagte mir auf Wiedersehen; dann fing sie an, kaum hörbar rückwärts zu zählen, von zehn an. Und bei Null angekommen, hörte ich etwas wie ein Kichern, und sie sagte :“Oh“, und fing erneut zu zählen an. Als ich sie fragte, ob Sie glaube, sie müsse nun sterben, sagte sie „Ja“- auf eine sehr sanfte Weise. Es war fast so, als hätte ich sie gefragt, ob sie Lust habe, ins Kino oder irgendwo hinzugehen. Einfach nur dieses über allen Maßen weiche Ja. Und ich legte die Platte mit unserer Lieblingskantate auf, und plötzlich atmete sie völlig ruhig, ohne jedes Ringen, so klar wie ein Glöckchen, nur unendlich viel zarter, und das letzte Mal, dass ich sie, an Ihre Kissen gelehnt sitzen ließ, spürte ich, dass ihr Körper mindestens doppelt so schwer wie vorher geworden war. Und da wusste ich, dass sie schon dabei war, uns zu verlassen, so wie du es uns vorher beschrieben hattest, was im Sterben geschieht. Und ich zitierte Hamlet für Sie- Ihre Lieblingsstelle: „Schlaf gut, süßeste Prinzessin, meine Engelschöre sollen um dich sein, dich in den Schlaf zu singen.“ Und sie war ganz still, und dann schien sie sich aufzulösen.“
Seine Freude und sein Gefühl für die Ganzheit, sagt er, wären größer als jemals zuvor in seinem Leben. Es war die perfekte Erfüllung ihrer langen Beziehung.
Auch wenn es manchen so erscheinen mag, als sei die Freude Roberts angesichts des Todes seiner Frau irgendwie unangemessen, es ist ganz normal, dass wir als Ehefrauen oder Ehemänner oder Partner solche Gefühle haben, nachdem wir unseren Partner über die fortwährenden Schwierigkeiten einer langen Krankheit hinweg umsorgt haben: Große Erleichterung zu spüren, weil ein geliebter Mensch von seinen Schmerzen erlöst wurde. Aber manchen scheint es noch mehr als das zu bedeuten. Sie machen die Erfahrung der Transzendenz, auch wenn Ihnen die Worte fehlen, es auszudrücken. Sie bekommen einen Schimmer des Mysteriums mit, weshalb sie sich noch Wochen später in einem aufgewühlten, nahezu ekstatischen Zustand befinden. Wenn dieses Hochgefühl schwächer wird, schreit in ihnen der Verlust des geliebten Partners auf, und die Arbeit des Sich-Öffnens für die Trauer beginnt. Anscheinend ist die Trauer jenen, die so viele Monate oder gar Jahre lang in harter Arbeit dem geliebten Menschen beistanden und sein Sterben auf Ebenen teilten, die sich der Beschreibung verschließen, schneller zugänglich, vielleicht sogar „leichter“, wenn ich dieses Wort inmitten solchen Schmerzes gebrauchen darf. Vielleicht liegt das daran, dass der Geist die tiefe Verbundenheit der Herzen niemals ganz verdecken kann. Für diese Menschen sinkt die Trauer rechtzeitiger in das Herz, wo der Verstorbene in seiner ganzen Verbundenheit und Liebe erfahren wird, die Freude ist die Freude der Vollendung, ihre Trauer ist der Verlust und das Sich- Öffnen für das, was kommt.
Robert rief uns spät abends an: „Meine Frau liegt im Sterben. Ich habe sie heute aus dem Krankenhaus nach Hause geholt, und jemand hat mir empfohlen, mich an dich zu wenden. “
Roberts Frau Kati wurde seit einiger Zeit wegen Magenkrebs behandelt, und in den letzten Monaten waren die Metastasen in ihrer Leber, ihre Lunge und ihr Gehirn gewandert. Robert erzählte mir davon: „Seit 4 Tagen etwa kann sie nicht mehr so gut sprechen. Sie zu verstehen, ist sehr mühsam. Aber sie verliert die Kontrolle auf eine sehr würdevolle Weise, und ich bin stolz auf sie.“ Ich deutete an, dass sie vielleicht nicht die Kontrolle verliert, sondern sie freiwillig aufgibt – dass die Selbstbeherrschung, die „Würde “, vielleicht ein Zeichen dafür sei, dass ihre Aufgaben auf Erden vollendet sein. Er erzählte mir, es sei ihr Wille gewesen, das Krankenbett zu verlassen und die körperliche Anstrengung auf sich zu nehmen, um nach Hause kommen zu können. Ich fragte ihn: „Wie fühlst du dich jetzt? Ich meine, wenn Kati tatsächlich sterben würde, während wir beide uns hier am Telefon unterhalten, wie könntest du dann bei ihr sein? “ Robert antwortete: „Es war ihre Wahl, zu Hause zu sterben, und ich werde sie auf dem ganzen Weg begleiten. Aber ich könnte ein wenig Beistand gebrauchen, denn ich will, dass es ihr gut dabei geht. Ich möchte, dass alles richtig ist. “
Veetman: „Damit alles richtig sein kann, musst du die Stelle finden, wo nicht alles richtig ist. Wenn du daran denkst, dass sie stirbt, kannst du dann die Stelle in deiner Brust fühlen, wo es wehtut? Kannst du den Ort des Verlorenseins in deinem Inneren finden, an dem du dich ihrem Sterben verweigerst?“
Robert: „Da ist eine Seite an mir, die mich beschwört, sie am Leben zu erhalten, und zu dieser Seite habe ich ein sehr inniges Verhältnis. Und dann ist da eine andere Seite, die zu mir sagt, sie wolle bei ihr sein, wenn sie stirbt, und auch das ist so ok. Sie hat mich immer geführt. Sie ist eine überaus starke Frau. Ihr größtes Problem im Moment ist das Atmen. Die Tumore machen es ihr schwer, Luft zu bekommen. Sie keucht viel, und während der letzten Tage im Krankenhaus kämpfte sie bei jedem Atemzug. Selbst die Erweiterung der Bronchien half nicht lange. Während der vergangenen 24 Stunden hatte sie Herzrhythmusstörungen, und ich denke, dass sie bald sterben wird, und vor allem möchte ich auf jede denkbare Art und Weise für sie da sein – so gut ich kann.“
V: „Die Angst zu ersticken ist so ursprünglich wie alle anderen Ängste, die wir haben. Das vergebliche Atemholen, nicht mehr tief durchatmen zu können, erschreckt uns oft. Es gibt einen alten Widerstand in uns, sich dieser Art der Angst, der Erstickungsangst, zu stellen, und er legt sich wie eine Schlinge um uns, so dass die Angst immer stärker wird - Alarmglocken schrillen, das Lebenslicht flackert, und man verkrampft sich, fühlt sich noch viel unbehaglicher. Du kannst Ihr dabei helfen, weich zu werden. Man kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, weich zu sein, wenn man sich das Loslassen und das Aufgehen von Angst und Spannung in etwas Größerem erleichtern will. Mein Lehrer erinnerte uns oft an diese bedeutsamen Worte für die Begleitung Sterbender: Entspann dich- Lass los-Vertraue.
Bei einer Frau, die ein Kind zur Welt bringen wird, ist es ganz ähnlich. Kati ist dabei, sich selbst zur Welt zu bringen. Manchmal wirkt es von außen, etwa für Menschen, die bei einer Geburt dabei waren, so, als sei der Schmerz die alles beherrschende Empfindung; fragt man aber die Betroffenen selbst nach ihren Empfindungen, dann ist da wohl Unbehagen, doch es ist viel mehr als das. Auch ein ungläubiges Staunen über den Prozess, ein starker Wille und eine gewaltige Kraft, auszuhalten - und auf den allerschmerzhaftesten Ruck folgende unbändigste Freude und das Gefühl der Erlösung, ein Gefühl der Vollkommenheit. Nimm ihr ihre Gefühle nicht ab. Wenn du wissen willst, was sie wirklich fühlt, dann frage Sie selbst. “
Robert sagte, das es wohl genauso sei, und auch sie habe gesagt, Ihre Schmerzen seien gar nicht so schlimm, es seien seine Projektionen, die ihr mehr Schmerz unterstellten, als sie wirklich fühle. Und dass Sie erkannt habe, das ist auch ihm gut täte, „weich zu sein“.
R: „Seit ich sie nach Hause geholt habe, schläft sie wieder gut. Atmen ist immer noch sehr anstrengend. Aber es scheint, als sei sie dabei viel entspannter.“
Er fügte hinzu, dass sie mit viel weniger Medikamenten auskäme, seit sie zuhause sei. Sie hatte ihn gebeten, den Prozess nicht mehr zu steuern, sondern ihn sich nach seinen eigenen Gesetzen entwickeln zu lassen und keine Lungenpunktion mehr vorzunehmen.
R: „Das ist der Teil, der mir schwerfällt, besonders weil ich gelernter Atemtherapeut bin. Sie vor mir zu sehen, wie Sie versucht, trotz der Flüssigkeit, von der sich immer mehr ansammelt, Luft zu bekommen. Dabei weiß ich, dass ich sie nicht absaugen werde, dass ich mich zu keinen heldenhaften Maßnahmen werde hinreißen lassen, weil das unsere Abmachung ist.“
Ich erwähnte, dass der Augenblick, den er und Kati gerade teilten, der innigste ihres ganzen Lebens sein könnte. Darauf erwiderte er: „Wir waren uns heute unbeschreiblich nahe, und ich hätte es nicht anders gewollt, auch wenn ich jetzt sehr müde bin. Ich habe nicht viel geschlafen, aber der heutige Tag war wie ein Wendepunkt für mich. Während der letzten Tage bin ich ohnmächtig vor Trauer gewesen, aber nun ist mir etwas sehr Schönes widerfahren, und ich fühle mich geistig einfach hellwach und überglücklich, weil wir nach Hause gekommen sind. Ich hatte gedacht, sie würde es nicht mehr schaffen. Sie schleppte sich unter solchen Anstrengungen in das Taxi, dass ich fürchtete, es wäre zu viel für sie. Aber ich weiß, dass sich Kati vollkommen bewusst ist, was hier passiert, und jetzt bin ich so erleichtert, dass ich tun kann, was sie sich gewünscht hat“.
Robert erzählte mir, das es manchmal beinahe so wirke, als ob sie in einen leichten komaartigen Schlaf gefallen sei. Und so schlug ich ihm vor, trotzdem mit ihr zu sprechen, ob sie nun antwortete oder nicht, die Verbindung zu ihr nicht abzubrechen, ohne sie allerdings zu bedrängen, sondern so, dass es ihr gefiele. Ich erklärte ihm, wie hilfreich das für ihn und für sie sein könne. Wenn sie nicht reagieren würde, sollte er nicht allzu vernünftig mit ihr sein, aber auch nicht meinen, sie sei „nicht mehr bei sich“, wo sie doch wirklich „gerade erst zu sich kommt “.
R: „Heute Nacht haben wir uns ausgiebig gedrückt und umarmt, und es war wirklich wunderschön. Und ich werde nicht aufhören, Wege zu finden, auch noch mit ihr zu sprechen. “
Ich schlug Robert vor, ihr aus ihren Lieblingsbüchern vorzulesen, von seiner Liebe zu ihr zu reden und davon, dass er bereit sei, sie ihren eigenen Tod sterben zu lassen.
R: “Ich lese ohnehin gern vor, das ist also hervorragend. Sie hat immer sehr im Einklang mit der Natur gelebt. Sie ist religiös, aber anders als die meisten Menschen. Eigentlich ist sie eher spirituell als religiös veranlagt. Sie liebt schöne Verse. Sie hat auch schon oft selbst geschrieben, so dass das vielleicht
ein Weg wäre, an sie heranzukommen, unter der Voraussetzung, dass ich etwas Schönes finde.“
Als ich ihm Thoreau vorschlug, antwortete er, das sei "geradezu ideal für sie“. der Enthusiasmus in seiner Antwort ließ mich aufhorchen: „Aber die Sache hat einen Haken. Es findet sich dort eine Verbundenheit und Hingabe an die äußerliche Schönheit dieser Welt. Und ich würde dieses Gefühl nicht noch verstärken, wo sie diese Welt doch gerade verlässt. Je leichter das ist, was du ihr vorliest, desto besser. Nur damit kein allzu starkes Verhaftetsein in ihr sich an diesen Raum gewöhnt, jetzt, wo sie in einem ziemlich ausgeglichenen Zustand zu sein scheint.“
R: „Ja, in gewissen Dingen könnte es nicht besser laufen.“
V: “Ich schlage vor, dass das, was du liest, ein Lebewohl an diese wunderbare Welt sein sollte. Sie macht den Eindruck, als habe sie keine Probleme damit, das hinter sich zu lassen, was sie hinter sich lassen muss. Vertraue dem Prozess mit der für dich größtmöglichen intuitiven Verbundenheit mit ihr. Lass es vom Herzen kommen.
Und sollte sie wieder in diesen komaartigen Raum geraten, dann bleibe einfach bei ihr. Gib ihr den Mut, zu sehen, dass sie mehr als ihr Körper ist. Selbst die Tatsache, dass sie dich im Koma hören kann, bedeutet, dass sie mehr ist, als sie jemals zu denken wagte. Es zeigt, dass ihr wahres Selbst aus mehr als dieser sterbenden Hülle oder den Fantasien des Geistes gemacht ist.“
Robert sagte, er hätte gern mehr mit ihr geredet, wenn sie so dalag wie im Koma, aber er habe seiner Intuition misstraut.
V: „Es ist eine unglaubliche Gnade für sie, zu Hause zu sein. Besser hättest du ihr nicht helfen können.“
R: „Das macht mich so glücklich. Ich weine, und ich lache. Ich habe ein sehr gutes Gefühl dabei. Heute war der Tag einer ganz besonderen Geburt; ich habe etwas ähnliches noch nie erlebt.“
V: „Gut. Und jetzt tut sie das letzte, was ihr noch zu tun bleibt. Ich habe das Gefühl, für euch beide wird diese Erfahrung einzigartig sein. Und im Grunde hast du jetzt nichts anderes zu tun, als offen und weich zu sein, um einfach davon erfasst zu werden. Möchtest du noch etwas fragen?“
R: „Nun ja, es ist schon eigenartig, ihr keine Medikamente mehr zu geben. Etwas in mir, wahrscheinlich meine alte Therapeuten- Manier, hat das Bedürfnis, sie zu behandeln“.
V: “Lass dich auch darin von ihr führen. Und du kannst ihr vorschlagen, darauf zu achten, welche Schmerzmittel sie braucht, so dass sie es selbst beurteilen kann. Sie wird vielleicht merken, dass sie weniger benötigt, als sie jetzt nimmt, oder auch mehr- wie auch immer. Aber zu diesem Zeitpunkt ist es wichtig, dass sie auf nichts als ihre eigene Intuition angewiesen ist. Die Zeit ist gekommen, wo ihr einander so viel wie möglich vertrauen müsst“
R: “Ich muss noch etwas anderes sagen: Ich möchte, dass sie etwas isst.“
V. “Aber sie hat wahrscheinlich keinen Appetit.“
R: “Ja, und das geht schon eine ganze Weile so.“
V: „Ich habe Menschen gekannt, die wochenlang nichts aßen, nur Flüssigkeit zu sich nahmen. Dein Drang, ihr zu Essen zu geben, deutet auf vielerlei Dinge hin. Vielleicht musst du dich erst wirklich, auf einer noch tieferen Ebene, von ihr lösen. Warte nicht, bis sie gestorben ist, bis du sie gehen lässt. Tu es jetzt. Es ist schwer. In dem Maße, in dem du es schaffst, dich dem Prozess zu öffnen und ihn auf ihre Weise geschehen zu lassen, wird die Tiefe Eurer gemeinsamen Erfahrung abhängen. Was ihr widerfährt, wirst du so intensiv mit ihr teilen können wie in der Vergangenheit, womöglich intensiver. Du musst ihr erlauben das zu tun, was Sie für nötig hält.“
R: „Sie gab mir heute Abend einige Hinweise. Nur ein Murmeln: `Nicht nötig´“.
V: „Es ist alles okay für Sie. Jetzt muss sie nur noch diesen Prozess mit sich geschehen lassen, was Stunden oder Tage dauern kann; es gibt keinen Weg, das zu wissen. Biete ihr etwas zu trinken an, natürlich, aber wenn sie weder essen noch behandelt werden will, lass sie. Achte darauf, wenn du gegen ihren Willen deinem eigenen Bedürfnis gehorchst, für sie zu sorgen, weil das eine Möglichkeit ist, sie festzuhalten zu einer Zeit, wo es für euch beide so sehr darauf ankommt, loszulassen, um mit dem nächsten Augenblick zu verschmelzen.“
Robert fügte hinzu, er verstehe nur schwerlich, warum von Zeit zu Zeit eine Art Unruhe Kati ergreife, auch wenn ihr Geist mit sich im Reinen zu sein schien und sie bereit sei, „sich selbst neu zu erschaffen“. Ich erzählte ihm, das wir viele Menschen gekannt hatten, die für den Prozess des Sterbens überaus offen zu sein schienen, „dennoch wirkten sie manchmal irgendwie rastlos, denn der Körper hört nicht auf, sich besitzen zu wollen“, auf einer Ebene, die weit über das normale Verhaftetsein hinausgeht– vielleicht hat der Geist mit dieser Art des Festhaltens nicht einmal etwas zu tun. An einem gewissen Punkt scheint es so zu sein, dass das körperliche Unbehagen ein geringes Maß an Unruhe im Geist hervorbringt. Auf einer noch tiefer liegenden Ebene ist das vielleicht eine der Überlebensstrategien, gegen die Körper und Geist keinen großen Widerstand leisten. Diese scheinbare innere Unruhe wird manchmal als Verwirrung oder Zweifel an diesem Prozess missverstanden, obwohl sie eigentlich durch die Existenz in einem Körper bedingt ist. Ich habe sogar Menschen, die mit Ihrem Sterben relativ gelassen umgingen, sagen hören: “Es ist, als ob sich der Körper zum Abschied noch einmal umarmt“, und ich sagte ihm, das es nichts gäbe, worüber er nicht sprechen dürfe, wenn es sein Wunsch sei. Robert erklärte mir daraufhin, ein großes Problem bestünde darin, das Kati´s Mutter sie unbedingt besuchen möchte. Kati aber hatte ihm zu verstehen gegeben, das eigentlich nicht zu wollen. Ihre Beziehung war immer problematisch gewesen. Kati war es angenehmer, nur Robert bei ihrem Sterben dabei zu haben. Trotz allem beharrte ihre Mutter darauf, da zu sein, ob Kati nun wolle oder nicht.
R: „Ich denke, es ist am besten, wenn ich alle Leute, die sie nicht sehen will, von ihrem Zimmer fernhalte. Ich habe ihrer Mutter in einem nahegelegenen Hotel ein Zimmer reserviert, und so könnte es gehen. Ich habe ja deutlich zu verstehen gegeben, was Kati sich wünscht. Es ist mir schwergefallen, das zu tun, weil ich ihre Mutter mag, aber ich musste so hart sein, denn natürlich verhält sie sich wie eine Mutter: sie will reinkommen, um ihre Tochter ein letztes Mal zu sehen, und Kati will das nicht. Sie sagt, sie hätten in den vergangenen Monaten genug Zeit gehabt, sich auszusprechen, weitere Worte wären zu viel. Sie sagt, es würde alles zerstören, wenn ich es zuließe. Meine Lage ist also ziemlich vertrackt.“
V. „Wie wäre es, wenn sie am Telefon miteinander sprechen würden?“
R: „Kati wäre dazu nicht in der Lage.“
V: „Vielleicht wäre das nicht einmal schlimm, vielleicht ist das der Zeitpunkt für ihre Mutter, Unvollendetes abzuschließen, wohingegen es für Kati nichts mehr zu sagen gibt. Frage Kati, was sie von einem Anruf Ihrer Mutter hält, bei dem sie selbst nichts sagen müsste, und der Hörer ihr ans Ohr gelegt würde. Für ihre Mutter wäre es eine Gelegenheit, Ungesagtes zu sagen. Wenn es Kati leichten Herzens tun kann und sich wohl dabei fühlt, wäre es eine gute Möglichkeit. Sie müsste keine Reaktion zeigen, aber ihre Mutter könnte einige der Dinge sagen, die sie sagen möchte. Vielleicht bekäme Kati auf diese Weise eine Fülle liebender Wärme, ohne sich selbst in dieser wertvollsten aller Zeiten verleugnen zu müssen.“
R: „Das ist eine gute Idee; wir können es versuchen.“
V: „Aber vergiss nicht, dass Kati über diese Sache ganz allein entscheiden darf. Will sie mit ihrer Mutter sprechen- gut so. Wenn sie es nicht will- auch gut. Kein Urteilen, kein Verurteilen. Vielleicht ist ihrer Mutter schon geholfen, wenn man sie dazu ermutigt, sich in einem kleinen Brief an Kati alles von der Seele zu schreiben. Kati könnte den Brief öffnen, wann immer sie es wollte.“
R: „Hmm... sie hatten die vielen Monate des Ringens mit der Krankheit, um auszusprechen, was gesagt werden sollte. Vielleicht braucht ihre Mutter die Möglichkeit, ihr Lebewohl zu sagen.“
V: „Vertraue einfach Kati´s Gefühlen, und alles wird gut, und sie werden es gemeinsam tun, was auch immer es sein wird. Kati´s Art, es zu erleben, ist richtig, und sie weiß, was sie verstört, was sie jetzt ganz allein bewältigen muss. Dem Wesen nach ist dies nur einer der vielen Augenblicke in ihrem Leben, wo sie vertrauen haben und sich auf die Größe ihres klaren Geistes und Ihres offenen Herzens verlassen muss. Tatsächlich schließt sie jetzt nicht nur mit dir und ihrer Mutter ab; es ist auch eine Zeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Ich weiß nicht genau, wie Ihre psychische Verfassung ist, aber ich denke, das Beste, was Sie für sich tun kann, hat sie bereits getan: Sich selbst mit liebender Wärme zu umgeben, mit den Menschen, die sie am meisten liebt, insbesondere mit dir. Und du kannst sie sanft bestärken, die Art der lebenden Wärme und das Verzeihens zu üben, die ihr am meisten hilft, wenn sie Abschied von sich nehmen muss. Wenn es irgendeinen Ort in ihr gibt, an dem das Verhaftetsein an diese Welt noch beherrschend ist, sprich ihr gut zu, diesen Ort weit zu öffnen. Das hat nichts damit zu tun, eine neurotische „Suchaktion“ zu beginnen, denn jeder Zwang würde das Unbehagen nur verstärken. Je mehr sie sich jetzt Ihrem Herzen ergeben lernt, zu sich selbst „ich liebe dich“ zu sagen, ja sogar mit ihrem eigenen Namen „Kati, Ich liebe dich“, desto mehr wird sie eins mit dem Prozess werden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und alte Blockaden, die den Weg verstellen, niederreißen- das ist vorteilhafter für alles, was folgen wird. Und wenn ich schon davon spreche, sich selbst gegenüber Nachsicht walten zu lassen, was ist mit dir, Robert? Wie steht es um deinen Schlaf?“
R: „Ich bin müde, aber schlafen will ich nicht.“
V: „Wirst du heute Nacht an ihrem Bett sitzen?“
R: „Ja, ich glaube sogar, dass ich mich heute zu ihr legen werde. Während der ganzen Zeit im Krankenhaus, und das war eine ziemlich lange Zeit, habe ich mich schrecklich danach gesehnt, in einem Bett mit ihr zu schlafen, so dass es wirklich schön war, sie wieder zu Hause zu haben. Ihre Blutwerte verbesserten sich, und es tat wirklich gut, als sie aus der Quarantäne entlassen wurde, und wir uns wieder berühren und umarmen konnten.“
V: „Jetzt ist es an der Zeit, nie mehr unter Quarantäne zu sein, die Quarantäne, in einem Körper geboren zu sein, eingeschlossen. Zu Hause zu sein ist das schönste, was ihr zu diesem Zeitpunkt passieren konnte.“
R: „Ich wusste, es würde gut sein, und ich hatte das Glück, mich von ihr führen lassen zu können und gleichzeitig einen eigenen Lernprozess zu erleben, der mich herausfinden ließ, dass ich nun selbst in dieser Sache die Initiative ergreifen, es in die Hand nehmen und diese Leistung anerkennen musste, und ich genieße es.“
V. „Ja, du hast etwas für Sie getan, was niemand sonst auf dieser Welt für sie hätte tun können, und du hättest es nicht besser machen können. Schlaf gut, mein Freund“.
Am nächsten Tag rief Robert mich früh morgens an, um mir mitzuteilen, dass Kati um 04:15 Uhr in der Nacht gestorben sei, während er an ihrer Seite lag- mit einem sanften Atemzug ihres Körpers, auf den kein weiterer folgte. „Sie hatte einen wirklich schönen Tod. Sie entschied, das ihre Zeit loszulassen gekommen sei, und so entfernte sie sich Schritt für Schritt von dieser Welt. Sie starb vollkommen ruhig, friedlich und gelöst, und ich bin immer noch zutiefst berührt. Es war unbeschreiblich. An einem Punkt, ungefähr anderthalb Stunden vor ihrem Tod, schaute sie zu mir hoch und sagte mir auf Wiedersehen; dann fing sie an, kaum hörbar rückwärts zu zählen, von zehn an. Und bei Null angekommen, hörte ich etwas wie ein Kichern, und sie sagte :“Oh“, und fing erneut zu zählen an. Als ich sie fragte, ob Sie glaube, sie müsse nun sterben, sagte sie „Ja“- auf eine sehr sanfte Weise. Es war fast so, als hätte ich sie gefragt, ob sie Lust habe, ins Kino oder irgendwo hinzugehen. Einfach nur dieses über allen Maßen weiche Ja. Und ich legte die Platte mit unserer Lieblingskantate auf, und plötzlich atmete sie völlig ruhig, ohne jedes Ringen, so klar wie ein Glöckchen, nur unendlich viel zarter, und das letzte Mal, dass ich sie, an Ihre Kissen gelehnt sitzen ließ, spürte ich, dass ihr Körper mindestens doppelt so schwer wie vorher geworden war. Und da wusste ich, dass sie schon dabei war, uns zu verlassen, so wie du es uns vorher beschrieben hattest, was im Sterben geschieht. Und ich zitierte Hamlet für Sie- Ihre Lieblingsstelle: „Schlaf gut, süßeste Prinzessin, meine Engelschöre sollen um dich sein, dich in den Schlaf zu singen.“ Und sie war ganz still, und dann schien sie sich aufzulösen.“
Seine Freude und sein Gefühl für die Ganzheit, sagt er, wären größer als jemals zuvor in seinem Leben. Es war die perfekte Erfüllung ihrer langen Beziehung.
Auch wenn es manchen so erscheinen mag, als sei die Freude Roberts angesichts des Todes seiner Frau irgendwie unangemessen, es ist ganz normal, dass wir als Ehefrauen oder Ehemänner oder Partner solche Gefühle haben, nachdem wir unseren Partner über die fortwährenden Schwierigkeiten einer langen Krankheit hinweg umsorgt haben: Große Erleichterung zu spüren, weil ein geliebter Mensch von seinen Schmerzen erlöst wurde. Aber manchen scheint es noch mehr als das zu bedeuten. Sie machen die Erfahrung der Transzendenz, auch wenn Ihnen die Worte fehlen, es auszudrücken. Sie bekommen einen Schimmer des Mysteriums mit, weshalb sie sich noch Wochen später in einem aufgewühlten, nahezu ekstatischen Zustand befinden. Wenn dieses Hochgefühl schwächer wird, schreit in ihnen der Verlust des geliebten Partners auf, und die Arbeit des Sich-Öffnens für die Trauer beginnt. Anscheinend ist die Trauer jenen, die so viele Monate oder gar Jahre lang in harter Arbeit dem geliebten Menschen beistanden und sein Sterben auf Ebenen teilten, die sich der Beschreibung verschließen, schneller zugänglich, vielleicht sogar „leichter“, wenn ich dieses Wort inmitten solchen Schmerzes gebrauchen darf. Vielleicht liegt das daran, dass der Geist die tiefe Verbundenheit der Herzen niemals ganz verdecken kann. Für diese Menschen sinkt die Trauer rechtzeitiger in das Herz, wo der Verstorbene in seiner ganzen Verbundenheit und Liebe erfahren wird, die Freude ist die Freude der Vollendung, ihre Trauer ist der Verlust und das Sich- Öffnen für das, was kommt.