Wie wir uns erinnern und ausdrücken, unser Leben anerkennen und Sinn finden.Wie wir uns erinnern und ausdrücken, unser Leben anerkennen und Sinn finden. Als die aktive Sterbephase für einen Freund begann, vertraute er mir in einem Brief seine Befürchtungen und Frustrationen bezüglich der Infusionen an, die ihn mit Sauerstoff versorgten. Dies war meine Antwort: Lieber Stefan, dein Leben ist jetzt sehr eingeschränkt, und es ist ein harter Weg, den du gehst. Du hast so vielen geholfen, bist für so viele dagewesen, und jetzt stehst du deinem Tod gegenüber, der dir die Luft regelrecht aus den Lungen quetscht. Du hast mich gelehrt, die Weisheit eines jeden Moments, wie schwierig sie auch sein mag, anzunehmen – solche Momente kommen jetzt auf dich zu, und du kannst sie nicht ablehnen. Als bewusste Menschen denken wir über den Tod nach, meditieren über ihn, und üben uns darin, ihn anzunehmen. Und wenn der Tod kommt, müssen wir eine Feuerprobe bestehen. Ich wünsche dir von Herzen, dass du keine Erwartungen hast. Wodurch auch immer du gerade hindurch gehen magst, ich wünsche dir, dass du erkennst – wie es uns gelehrt wird- dass der Moment des Loslassens das große Tor der Befreiung ist. Ich hoffe, dass das die Wahrheit ist. Ich glaube daran – und dennoch: erst die Erfahrung wird es uns zeigen. Mit meiner Liebe, Veetman Lieber Veetman, ich heiße den Tod willkommen. Es ist das Sterben, das beschissen ist. Wie können wir es leichter machen? Danke für das Festessen, dass du an mein Bett gebracht hast. Stefan Lieber Stefan, das höchste Mahl besteht aus allen Zutaten des Lebens, selbst den sauren und bitteren. Du fragst mich, wie wir das Sterben erleichtern können? Ich muss dir die Wahrheit sagen: Ich weiß es nicht. Aber hier ein paar einfache Ratschläge: Finde Frieden in den kleinen Dingen. Schätze dein Leben, all das Gute, das du getan hast. Das ist wirklich wichtig. Mache dir bewusst, dass andere leiden – vielleicht in einer ähnlichen Weise wie Du. Mitgefühl ist eine Schatztruhe. Schließe Frieden mit allen, die bei Dir sind. Die Wahrheit ist jedoch: wir tun einfach unser Bestes. Früher oder später müssen wir durch alle unsere Schwierigkeiten hindurch gehen. Vielleicht wirkt der Horizont des Sterbens klein, während wir es durchleben, aber er zieht sich um die gesamte Milchstraße und weist uns den Weg in die Grenzenlosigkeit, die wir in Wirklichkeit sind. Lieber Stefan, es ist nicht einfach für mich, zu akzeptieren, dass dein Sterben so schwer ist. Ich wünschte, es wäre anders. Aber so ist es: roh und unvorhersehbar. Du bist in meinen Gebeten, meinem Herzen. Veetman Lieber Veetman, ich werde mit weiteren Fragen zu dir kommen, bevor ich mich auf die Milchstraße begebe, falls mein Karma mir dies erlaubt. Ich spüre dein Mitgefühl tief in meinem Herzen, und ich kann deine Weisheit nicht ignorieren. Ich bin mir nicht sicher, was du meinst, wenn du schreibst: „dass dein Sterben so schwer ist.“ Soll ich wie ein Wurm sterben oder wie ein Berglöwe? Beides ist gut. Sagst du zu mir: „Geh sanft in jene gute Nacht“? Wieso wird diese Asche ausgeschüttet? Was ist mit meiner Frau, meiner Familie, meinen Kindern und Enkeln? Als Lehrer hast du über Karma gesprochen. Auch du bist in meinen Gebeten und meinem Herzen. Stefan Danach hatte er keine Energie mehr, weiterzuschreiben. Langsam verschlossen sich seine Lungen, und das war es dann. Der Arzt in seinem Hospiz und seine Frau atmeten mit ihm, als er seinem Tod begegnete. Er starb wie ein Berglöwe, wurde mir gesagt. Stefan fragte nach dem Sinn seines Lebens und Sterbens, und als er seinem Tod näherkam, suchte er nach einem Sinn in seinen Beziehungen und in den Gedichten und Liedern, die er liebte. Obwohl ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob er eine Antwort fand, die ihn zufrieden stellte, weiß ich, dass seine Frage nach dem Sinn nicht ungewöhnlich ist. Sterbende Menschen haben oft den Wunsch, sich zu erinnern, zu überdenken, zu bewerten und dem eigenen Leben einen Sinn zu verleihen. Wenn der sterbende Mensch dazu noch in der Lage ist, kann dieses Bemühen äußerst heilsam sowohl für den Sterbenden als auch für die Hinterbliebenen sein. Ein Enkelkind sitzt am Bett eines alten Mannes und hört zu, wie er seine Lebensgeschichte erzählt. Ein Aufnahmegerät hält seine Worte fest, bewahrt seine Geschichte und verleiht seinem Bericht Bedeutsamkeit und Würde. – Eine Familie hilft einer Mutter, die an Brustkrebs stirbt, ein Album mit den Stationen ihres Lebens anzulegen. Auf ihrem Bett begegnen sich in diesem Prozess Fotos, Freunde und Kinder. – Ein sterbender Mann stellt mit seinen Freunden und seiner Familie einen Altar auf, der mit den Schätzen eines gelebten Lebens geschmückt ist. – Ein guter Ehemann, der an Alzheimer leidet, teilt sein Herz und seine Erinnerungen mit seiner Frau, während sein Geist langsam, aber stetig in der Dämmerung versinkt. Als die letzten Funken seines Bewusstseins in der Dunkelheit verglühen, kann sie die Lehre vertreiben, indem sie ihm versichert, dass seine Worte und seine Weisheit, von ihr aufgeschrieben, weiterleben werden. – Eine sterbende Patienten bittet darum, dass eine Videokamera in ihrem Zimmer aufgestellt wird; sie spricht in sie hinein und erzählt uns, wie es ist, zu sterben, wie es war, zu leben. Jahre nach ihrem Tod gründet ihre Schwester eine Telefonberatung für Menschen mit einer schweren Erkrankung denn sie weiß, wie wichtig es für Sterbende ist, dass sie gehört werden, und wie wichtig es für uns alle ist, ihnen zuzuhören.- Als ein Vater in seiner aktiven Sterbephase war, gab er seiner Schwester, und ihren Kindern, einen sehr gedrängten Bericht über sein Leben. Die Zeit war gekommen, über seine Kriegserfahrungen, die er nie zuvor mit ihnen geteilt hatte, zu sprechen. Am Ende seines Lebens wollte er sich von den Erinnerungen befreien, die ihn 60 Jahre lang verfolgt hatten. Er begeisterte sie aber auch mit seinen Erzählungen über seine wirtschaftlichen Erfolge und verzauberte sie mit seinen Geschichten über die Liebe zu seiner Frau. Sie mussten sich wirklich konzentrieren, um ihm folgen zu können – es war, als ob sie sein Leben im Zeitraffer verfolgten. Instinktiv verstanden sie, dass er diese Gelegenheit suchte, um sein Leben noch einmal zu überdenken, und sie brachten ihm aufrichtiges Interesse entgegen. Sie erzählte mir: „Einmal war ich die ganze Nacht bei ihm wach geblieben und legt mich hin, um ein paar Momente zu ruhen – doch bereits nach wenigen Minuten bestand er darauf, dass ich aufwachte, um seine letzten Geschichten zu hören. Obwohl ich erschöpft war, war ich glücklich darüber, dass er uns am Ende mitteilen konnte, was er von uns brauchte, und wir für ihn da sein konnten. Wir hörten ihm zu, während er ein Leben resümierte, die er sich mit Liebe, Kraft und Integrität verschrieben hatte. Vielleicht zum ersten Mal schien er zu verstehen, wie viel er gegeben und geliebt hatte, und wir alle konnten es mitempfinden. Indem wir ihm zuhörten, konnte er durch das Erinnern seiner Geschichte einen Sinn entdecken, Gefühle klären und den Sterben selbst Bedeutung verleihen. Dieser Prozess, mysteriös und eindringlich, wie er war, half auch uns. Der vertraute Kreis, der sich um sein Bett versammelt hatte – die Kinder, und ich – erfuhr in seiner Anwesenheit und durch seine Worte tiefe Liebe und Dankbarkeit für ihn und füreinander. Als er keine Kraft mehr hatte, wurde er immer stiller und fiel schließlich bis kurz vor seinem Tod in Schweigen.“ Immer wieder können wir in dieser wunderbaren Arbeit mit dem Sterben erkennen, dass das, was erstmal nur den Sterbenden hilft, auch von tiefem und anhaltendem Nutzen für die Überlebenden ist. Wenn wir einfach nur da sind, um sie zu unterstützen, wenn wir den Geschichten oder Lebensberichten der Sterbenden wirklich zuhören, öffnet sich das große Herz des Mitgefühls – so weit wie die Welt – und kann zwischen uns wachsen und uns beglücken. „Als mein Vater im Sterben lag, spürte ich dieses sanfte Herz. Ich musste mich nicht darum bemühen, es war keine spezielle Fähigkeit, die ich entwickeln musste. Es übernahm einfach ganz spontan seine Aufgabe, als dieser Mensch am intensivsten litt. Als ich in seiner letzten Nacht bei ihm war – die Arme waren von seinem Toben blau angelaufen und verschrammt, und Blut floss aus seinem Mund, weil er sich auf Zunge und Lippen gebissen hatte –, konnte ich ihn einfach nur im Arm halten und ihm immer wieder für die Liebe danken, die er mir geschenkt hatte. Welchen Trost auch immer ich ihm geben konnte, er entsprang meiner tiefen Dankbarkeit. Ich fand keine anderen Worte. Ich wiederholte immer nur Worte des Dankes und der Verbundenheit; sie trugen uns durch den wilden Sturm, der vor dem endgültigen Frieden des Todes kommt. Als ich seinen Kopf hielt und ihm ins Ohr flüsterte, war nicht ich es, die sprach, sondern das Herz der Welt. Ich erkannte das erst viel später. In diesen Momenten hatte ich keinen Gedanken, nur das Aufwallen eines gebrochenen und dankbaren Herzens.“ Paradoxerweise können wir aus dieser Gebrochenheit heraus das Gewebe der Vollkommenheit zusammensetzen, können Sinn im Leiden oder in den kleinen, simplen Momenten der Verbundenheit finden, wenn wir uns erlauben, ganz für die Sterbenden da zu sein.
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Veetman
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February 2022
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